Franzosenzeit (Mein Leben)

Wir in unserem entlegenen Winkel erfuhren nur wenig von diesem großen Ereignisse. Die Landeshoheits- und Grenzpfähle mit dem preußischen Adler erinnerten uns jedoch bald, daß wir nicht mehr königlich großbritannisch-hannoverisch waren. Die Stimmung war sehr gegen den neuen Landesherren und hie und da hörte man viel vom preußischen Pfiff und preußischen Kuckuck. Man fürchtete eine größere Steuerlast. Mit Wohlgefallen erzählte man sich, ein Bauer habe vor einem Pfahle, woran der Adler, gestanden, diesen immer angesehen und sich die Taschen zugehalten. Endlich sei die Wache gekommen und habe gefragt, warum er doch immer den Adler so ansehe? „Ik mach mik dreien wohen ik wil, hei kickt mik immer in mine Taschen.“

Im Sommer blieb es still, wir waren von Einquartierung verschont. Im Herbste wurde es unruhiger als je. Viele tausend Preußen kamen durch unsere Gegend, lauter Fußvolk. Der Zug eines Regiments dauerte sehr lange, es war groß Gewühl und Getümmel, hinterher viele Packwagen mit Zelten und Stangen. Wir hatten oft bis spät Abends zu sehen. Sehr ergötzlich waren für uns die großen Wagen mit Truthühnern und sonstigem Federvieh; den Thieren bekam die Reise ganz wohl, sie sprangen munter ans Gitter und pickten uns die Brotkrumen aus der Hand. Es sah gar nicht aus, als ob es in Krieg ginge, und alle Welt sagte doch: „es geht in den Krieg.“

Manches ereignete sich auch was selbst uns Kindern gar zu spaßhaft vorkam. Eines Morgens hörten wir plötzlich trommeln. Wir laufen vor die Thür. Da kommen mehrere Trommelschläger vom Amthofe herab und schlagen den Generalmarsch. Wir fragen sie was das solle? ›Nun, sagen sie, uns ist befohlen, jetzt zum Abmarsch zu trommeln.‹ Wir bedeuteten ihnen, es sei ja am frühen Morgen Alles schon abmarschiert. Sie hingen die Trommeln auf den Rücken und zogen ihres Weges. Da kommt endlich der alte General hinterdrein geritten; er wundert sich, seine Leute nicht mehr zu sehen. „Wo ist mein Regiment hinmarschiert?“ fragt er und wir ertheilen ihm die nöthige Auskunft.

Die Durchmärsche der preußischen Truppen hatten aufgehört. Bald aber wurde die Stille aufs Neue unterbrochen. Hatten wir bisher nur Soldaten gesehen, die siegesgewiß, stattlich mit Wehr und Waffen in geordneten Zügen kamen und gingen, so sollten wir nun auch Soldaten sehen, die einzeln oder truppweise ohne Gepäck und Waffen, traurigen Blicks einherzogen und nach kurzer Rast als Flüchtlinge weiter eilten.

Es war eines Sonntags (den 19. October) gegen 1 Uhr, wir hatten uns eben zu Tische gesetzt, da sprengten drei preußische Cürassiere vor unser Haus. Wir eilten vor die Thür. Wie erschraken wir, als das erste Wort aus ihrem Munde kam: ›es ist Alles verloren!‹ Wir suchten sie auszufragen, aber sie wußten auf alle unsere Fragen nur immer dasselbe zu erwiedern: ›es ist Alles verloren, Alles!‹ Sie erkundigten sich nach dem Wege, den sie einschlagen wollten, näher und machten sich bald auf und davon. Wir sahen uns erstaunt an. Mein Vater schüttelte zweifelnd den Kopf, er hielt es für unmöglich, daß ein Krieg, dessen Anfang wir ja noch kaum wußten, bereits einen so unglücklichen Ausgang für Preußen genommen habe; er konnte an die schreckliche Kunde, die erste vom Kriegsschauplatze, nicht glauben und hielt lieber die drei Reiter für Ausreißer, die ihre Feigheit nur hätten beschönigen wollen.

Leider bestätigte sich das Unglaubliche nur zu früh. Schon die nächsten Tage kam Fußvolk truppweise, alle niedergeschlagen und im erbärmlichsten Aufzuge, sie hatten nichts weiter gerettet als das Leben und den Brotbeutel. Sie gehörten verschiedenen Heeresabtheilungen an, und wußten nicht woher, wohin. Durch ihren traurigen Anblick und die Erzählungen von ihren ausgestandenen Leiden und Strapazen erregten sie allgemein großes Mitleid, sie fanden überall Unterstützung. Die Durchzüge der Flüchtlinge und Versprengten dauerten noch mehrere Tage fort.
Es wurde nun wieder still. Der Krieg berührte uns nicht weiter unmittelbar.

Der Winter hatte begonnen und wir Kinder gingen zu unseren alten Spielen über. Nach dem Schlusse der Schulstunden eilten wir auf das Eis, wir glanderten oder liefen Schrittschuh, und wenn es Schnee gab, fuhren wir auf dem Handschlitten eine steile Schneebahn hinab, und bei eintretendem Thauwetter schneebällten wir uns, machten Schneefestungen oder errichteten große Schneemänner auf wegsamen Straßen, zuweilen sogar heimlich dicht vor den Hausthüren. Da die Arbeiten für die Schule bald gemacht waren, so gewährte der lange Abend Zeit genug zum Spielen. Wir machten uns von Kartenblättern Soldaten eigenthümlicher Art: das Blättchen wurde der Länge nach gefaltet und hinten schräg eingeschnitten, der Einschnitt umgeklappt und mit einer Feder versehen, und der Soldat war fertig. Da in unserm Hause viel kartengespielt wurde, so eigneten wir uns die schlecht gewordenen Spiele zu, unser Heer war immer vollzählig.

An zwei Abenden in der Woche kam der Hamburger unparteiische Correspondent. Ich mußte dann die Blätter vorlesen. Die Stammgäste saßen um den großen Tisch herum, rauchten zu ihrem Glas Bier ihr Pfeifchen und hörten aufmerksam zu. Ich las und las in aufgeregter Stimmung, denn die Tagesbegebenheiten hatten auch für mich ein großes Interesse.

Schon in den ersten Tagen des Novembers erfuhren wir Näheres über die unglückliche Schlacht von Jena und auch von ihren Folgen eine auch für uns höchst wichtige: Bertier war wieder in Hannover und erklärte am 12. November, daß er im Namen seines Kaisers das Land in Besitz nehme. Der preußische Adler wurde mit dem französischen vertauscht. Zwei Tage später erlag in Ottensen seinen Schmerzen der todtwunde Herzog Carl Wilhelm Ferdinand von Braunschweig, fern von seinem Lande, das glücklich durch ihn und mit ihm gewesen war. So folgten sich rasch hinter einander die großen traurigen Tagesereignisse.

Noch Einmal, ehe das Jahr zu Ende ging, wurden wir daran erinnert, daß wir in Kriegszeiten lebten. In der Abenddämmerung hielten zwei Bauerwagen vor unserem Hause still. Mehrere Männer stiegen ab, sie schienen durchnäßt und angegriffen von der Reise. Mein Vater hieß sie freundlich willkommen. Es waren preußische Officiere von der Besatzung Hamelns. Nachdem sie sich umgekleidet und gespeist hatten, wurden sie gesprächig. Sie sprachen sich alle unumwunden und sittlich entrüstet aus über die niederträchtige Capitulation des Commandanten von Schöler. Es war eine männliche würdige Sprache, die uns mit Achtung für die jungen Männer erfüllte und mir unvergeßlich geblieben ist.

Der Haß gegen Preußen, der im Kurstaate Hannover ein ziemlich allgemeiner gewesen, war jetzt ziemlich verschwunden, das große Unglück hatte große Theilnahme erweckt. Es wurde wieder viel in unserem Hause politisiert; wir hörten das Alles mit an und ließen unser Spiel ruhen. Wenn man von dem traurigen Ende des Herzogs von Braunschweig sprach, so weinten wir, denn wir hatten nur immer Züge der Liebe und Güte von ihm vernommen. So oft man auf Blücher´s Niederlage in Lübeck und die dortigen Gräuel zu sprechen kam, wurden wir über die Franzosen empört.

Die preußische Ruhmredigkeit war hart gestraft, aber niemand konnte sich denken, daß ein so mächtiger Staat so schnell in die tiefste Schmach sinken würde. ›Ja, rief dann eine Stimme, es ist mit uns Deutschen vorläufig vorbei!‹ und eine andere meinte dagegen: ›laß nur! die Preußen werden die Franzosen ins Land locken und ihnen den Garaus machen.‹ Leider hatte jene erste Stimme, ich glaube die meines Vaters, Recht: es war vorläufig mit uns vorbei, es folgte ein schmachvoller Friede.

in: Mein Leben , S. 14 f