Umzug nach Bingerbrück

Wir dachten nun ernstlich an unsere Uebersiedelung nach Bingerbrück. Da unsere Wohnung dort noch nicht eingerichtet war, so sollte ich vorher das Nöthige besorgen, Ida wollte dann mit ihrer älteren Schwester Alwine später nachkommen.

Am 30. November kam ich in Bingerbück an. Unser Wirt empfing mich sehr freundlich und führte mich in meine Wohnung ein. Ich dankte ihm, daß er mir meine Wünsche erfüllt und den allernöthigsten Hausrath und auch einige Wintervorräthe (Kartoffeln, Obst, Sauerkraut) und Feuerung besorgt hatte. Die nächste Zeit mußte ich nun noch manchen Weg machen für meine häuslichen und litterarischen Bedürfnisse. Ich gelangte wenig zur Ruhe.

Als diese sich endlich einstellte, begann ich wieder geistig thätig zu sein. Ich holte mein Büchlein hervor, das ich den letzten Sommer vollendet hatte und arbeitete es um. Bei den vielen Geschichten, Schnurren und Witzen schien es, als ob ich das Unbehagliche meiner Lage vergessen hätte. Allerdings gab es Augenblicke, in denen ich mich recht freuen konnte, wenn ich im warmen Zimmer vor meinem Tische saß und hinausschaute in die schöne großartige Natur. Trotzdem wurde meine Unruhe und Sehnsucht täglich größer. In meiner winterlichen Einsamkeit schrieb ich mehrmals an Ida und bat sie flehentlich, sobald milderes Wetter einträte, sofort herüberzukommen. Während bei uns das Wetter ziemlich milde geworden, konnte ich nicht ahnden, daß bei Hannover die Kälte bis auf 20. gestiegen war.

Als die Dampfschiffahrt wieder eröffnet war, ging ich jeden Tag an den Rhein, um Ida zu empfangen. Am 22. Dezember wurde wahr, was auf Freiligraths Petschaft: ein Amor unter Dornen ist mit der Umschrift umgeben: Après la peine le plaisir. Wie sich der Dampfer dem Strande näherte, winkten mir weiße Tücher zu, bald empfing ich freudevoll die Meinigen und führte sie nach Bingerbrück in unsere neue Wohnung.

Sie waren sehr überrascht von der prachtvollen und mannigfaltigen Aussicht aus unseren Fenstern. Da uns der ganze dritte Stock vermiethet war, so hatten wir nach allen Seiten hin etwas zu sehen: vor uns die Nahebrücke, der Scharlachberg, die Klopp, die Kirche mit einem Theil von Bingen, rechts die Straße nach Münster und die weite Ebene bis zum Donnersberge, links der Niederwald mit dem Ehrenfels, der Zusammenfluß des Rheins und der Nahe, und ganz links der Rupertsberg; hinter dem Hause der steile Bergweg nach Weiler, daneben der Gießbach und rechts die Weinberge mit dem Rondel.

Ida erzählte viel von ihrer Reise, besonders von Köln, wie freundlich und liebenswürdig Freiligrath sich ihrer angenommen und sie zu allen Schönheiten und Merkwürdigkeiten geführt habe etc. Am zweiten Weihnachtstage machten wir einen Spaziergang zum Rondel. Der Weg führt auf der neuen Straße über den Rupertsberg hinauf. Ida und Alwine waren sehr entzückt über die prachtvolle Aussicht in den ganzen Rheingau bis Eltville. Mit dem Troste, daß wenigstens die Gegend, die ich mir für unsern Aufenthalt ausgewählt hatte, den Meinigen lieb und werth war, trat ich in das Neue Jahr ein.

in: Mein Leben – 30. November 1849