Doch diese verlogene biedermeierliche Gemütlichkeit hat in sich eine böse Aggressivität im Namen der Macht des Reiches. Zunächst klingt es als stolze Großartigkeit: „Einigkeit und Recht und Freiheit sind des Deutschen Unterpfand“. Analysieren wir, was darin liegt:
Erstens: Die Reihenfolge, zugleich die Rangordnung des Wesentlichen, ist entscheidend: Einigkeit und Recht und Freiheit. Einigkeit als Einheit Deutschlands an die Spitze gestellt, bedeutet: Zuerst Einheit, das Recht kommt hinterher, und nach dem Recht kommt noch die Freiheit.
Während für ein politisches, das heißt republikanisches Denken die Sache umgekehrt liegt: Erst die Freiheit, aus ihr das Recht und dann schließlich die Einheit. Die falsche Reihenfolge in der Hymne hat die Grundgesinnung ausgesprochen.
Zweitens: Wenn die Einheit, statt unter Bedingungen gestellt zu sein, zum Absoluten wird, so ist die Folge: Die Einheit der Macht als Macht hat unter allen Umständen den Vorrang. Auf Freiheit muss im Konfliktsfall verzichtet werden, das heißt praktisch: Die Freiheit des Bürgers wird der Kontrolle der Staatsführung unterzogen.
Es ist nicht mehr sein Staat.
Karl Jaspers, Denkwege, 1983