Zwar wurde gegen Beginn des 20. Jahrhunderts Hoffmanns „Lied der Deutschen“ öfter gesungen, mindestens ebenso häufig erklang aber immer noch „Die Wacht am Rhein“: mit den Zeilen:
„Reich, wie an Wasser deine Flut
ist Deutschland ja an Heldenblut.“
Und im nationalen Kriegstaumel wurde ebenfalls gesungen:
O Deutschland hoch in Ehren
du heil’ges Land der Treu …
Haltet aus, haltet aus
lasset hoch das Banner wehn
Zeigt der Welt, zeigt dem Feind
daß wir treu zusammenstehn!
Dies war das geistige Umfeld, in dem Hoffmanns „Deutschland, Deutschland über alles“ erstmals wirklich populär wurde. Und gleichzeitig war es damit das Haupterbe, das Deutschland von den 48ern übernommen hatte. Und das ist das eigentlich Traurige daran. Gerstenberg zitiert in seinem Buch „Deutschland über alles“ einen Richard M. Meyer mit den Worten:
„Deutschland über alles mit seinen mächtigen Trompetenstößen kann doch kaum jemand hören, ohne einzustimmen; man läuft mit wie bei den marschierenden Soldaten, man schließt sich an, und unsichtbar marschiert der liederreiche Hüne mit dem Patriarchenbarte voran.“
Mühelos zieht Gerstenberg mitten im 1. Weltkrieg eine Linie vom dreißigjährigen Krieg über die Revolution von 1848 bis zur Schlacht von Langemarck.
“ Nach dem Tiefstande, zu dem der dreißigjährige Krieg unser Volk hinabgedrückt hatte, mußte es erst eine geistige Wiedergeburt erleben und seine nationalen Kräfte, die leiblichen, geistigen und sittlichen , sammeln und in harten Kämpfen stählen, ehe ihm der Weltkrieg von heute möglich war. Was, scheinbar klein, hinter uns liegt, sind notwendige Vorstufen des deutschen Aufstiegs, der sich heute dem Gipfel nähert. Knospen und Blüten von einst reifen heute zur Frucht. Und der Geist unserer großen Erzieher, unserer Dichter, Denker und Forscher, unserer Staatsmänner, Heerbildner und Volksmänner, wirkt ungeschwächt, ja gesteigert in uns fort. Schiller und Fichte, Arndt und Jahn stehen uns näher als ihrer Zeit. Scharnhorsts Gedanke der allgemeinen Wehrpflicht ist noch nie so vollständig wie heute durchgeführt.
Der Wille zur Einigkeit, einst Traum der Dichter, ist in den Augusttagen 1914 mit der Unwiderstehlichkeit einer Naturgewalt hereingebrochen. Wesen und Wert des Deutschtums sind heute erkannt wie noch nie. In viel weiterem Umfange und tieferen Sinne empfinden wir heute daher den Inhalt des Liedes „Deutschland über alles.“ Es war im August 1914 das Weihelied der Tausende, die dem deutschen Volke und Vaterlande vor dem Berliner Bismarcksdenkmale fromm huldigten, war der Schlachtgesang unserer todesmutigen Jungmannschaft bei Langemarck.
Durch den heurigen Krieg ist dieses Lied der Deutschen zum vaterländischen Hochgesang unserer Feldgrauen draußen und der im Bürgerkleide heimgebliebenen, ist das gläubige Bekenntnis zum Deutschtum geworden. Es gehört zu den unwägbaren Kräften, die heute und immer in unserem Volke wirken, die ihm jene Begeisterung sichern, welche den Sieg über eine Welt von Gegnern verspricht. Daher steht sein Sänger, Hoffmann von Fallersleben, der heutigen Zeit näher als vergangenen Geschlechtern, die ihn noch unter sich haben wandeln sehen.“
Weiter heißt es in dem Machwerk:
„Als fast ein halbes Jahrhundert nach seinem Entstehen, im Juni 1890, auf Helgoland endlich die deutsche Flagge aufgezogen wurde, da wurde sie von der Festversammlung mit den brausenden Klängen „Deutschland über Alles!“ begrüßt. Und wie oft ist es unter den alten Eichen des Sachsenwaldes angestimmt worden, wenn deutsche Männer und Frauen aus alles Gauen dem Altreichskanzler ihre Huldigung darbrachten ! Inzwischen ist es auch hoffähig geworden und vor dem Kaiser an manchem vaterländischen Ehrentage erklungen.
Seine Bluttaufe aber hat es im November des Jahres 1914 erhalten, als der Kriegsbericht der deutschen Heeresleitung stolz verkündete: „Westlich Langemarck brachen junge Regimenter unter dem Gesange „Deutschland, Deutschland über alles“ gegen die erste Linie der feindlichen Stellungen vor und nahmen sie.“ Dabei haben sie „Deutsche Frauen“ und „Deutschen Wein“ durch „Deutsche Sitte“ und „Deutschen Mut“ ersetzt.
George Bernard Shaw, irischer Dichter, schrieb einen Monat später, im Dezember 1914, das Lied sei eine imperialistische Erobererhymne, die wortgetreu aussage, daß Deutschland sich zum Herrn über alles in der Welt machen werde. Und tatsächlich führte Deutschland ja einen Eroberungskrieg. Gerstenberg führt dagegen den schwedischen Gelehrten Gustav f. Steffen an:
„Beiläufig bitte ich meinen Freund G. B. Shaw darüber aufklären zu dürfen, …daß es absolut nichts mehr, aber auch nichts geringeres ist, als der wohl herrlichste Hymnos an die Einigkeit und Treue der deutschen Stämme, Einigkeit untereinander und Treue gegen ihr eigenes Wesen, welcher in dem liederreichsten, sangesfrohesten und sangesandächtigsten Lande in der ganzen weiten Welt – Deutschland – gedichtet worden ist.“
Zwar, schreibt Gerstenberg weiter, würden andere Völker , und zwar nicht nur offene Gegner, den deutschen Selbstüberschätzung und Überheblichkeit ,Hochmut und Herrschsucht vorwerfen .Aber nur Lumpen seien bescheiden, und es handele sich in Wirklichkeit um harmlosen Nationalstolz und Vaterlandsliebe, wenn Deutsche stolz darauf seien, daß sie endlich so tüchtige Kerle geworden sind und nicht mehr den Fremden nachlaufen oder sich von ihnen treten lassen.
„Aber auch im eigenen Lande haben sich Nörgler gefunden, die uns die Freude an dem Liede verkümmern wollen,“ fährt Gerstenberg fort „Daß in den drei Versen des Liedes vierzehnmal das Wort „deutsch“ vorkomme, sei doch des Guten zu viel – oder:
„Der Grundgedanke selbst hat für alle echten Deutschen, denen es tiefere Eigenschaften des Geistes und des Gemütes nicht gestatten, im Hurra-Patriotismus bis auf den letzten Rest aufzugehen, etwas unbehagliches, vielleicht Beklemmendes, wenigstens die vollste Zustimmung Beeinträchtigendes…..Noch schlimmer ist, daß das Lied ein ganz spezifisches Erkennungszeichen des Antisemitismus geworden ist.“
Offensichtlich gab es auch damals schon deutsche Menschen, die ähnliche Probleme mit dem Lied hatten wie wir heute. Solche Nörgler nennen bestimmte „Ich bin stolz ein Deutscher zu sein“ – Glatzköpfe heute üblicherweise „Zecken“. “
„Ich kenne keine Parteien mehr, jetzt kenne ich nur noch Deutsche“, mit diesen Worten rief Kaiser Wilhelm das Volk in den Krieg, alle Gegensätze haben zu verschwinden ,Arme und Reiche sind nur noch Deutsche.
„So werden wir den großen Kampf für Deutschlands Recht und Freiheit, wie lange er auch dauern mag, in Ehren bestehen und vor Gott, der unsere Waffen weiter segnen wolle, des Sieges würdig sein,“ so der deutsche Kaiser an sein Volk zu Beginn des zweiten Kriegsjahres 1915. Von den Forderungen der 1848er, nämlich Recht und Freiheit des Einzelnen blieben jetzt nur noch Recht und Freiheit der Nation. Und dafür werden alle anderen rechtlos.
„In diesem Sinne,“ schreibt Gerstenberg, „durchbraust heute das „Lied der Deutschen“ die ganze Welt, soweit die deutsche Zunge klingt. Wir wollen nicht mehr in der angelsächsischen Welt die Handlungsgehilfen, Barbiere und Kellner spielen; wir wollen uns nicht von den Segnungen der russischen Kultur beglücken lassen. Wir wollen Deutsche sein und Deutsche bleiben, unserer Eigenart und unsere Weltaufgabe stolz uns bewusst. Nur so zwingen wir der feindlichen Welt Achtung vor uns ab. Auf ihre Neigung und Liebe verzichten wir gern.“