Hoffmann ist noch nicht begraben, da wird die Legendenbildung schon fortgeschrieben, die er mit seinen Lebenserinnerungen in “ Mein Leben “ selbst begonnen hat. Ernst Scherenberg verfaßte einen Nachruf auf Hoffmann von Fallersleben, den er bei der Beerdigung am offenen Grabe vorträgt. Darin heißt es:
Und du fielst !
Aus deinen Händen sank des Liedes Feldherrnstab !
Unsere letzten Grüße senden trauernd wir dem Dichtergrab
Aber dann – wie Donner hall es –
steig der Schwur zum Sternenzelt:
„Deutschland Deutschland über alles
über alles in der Welt !“
Eine offizielle Nationalhymne gab es im Deutschen Kaiserreich (1871 – 1918) nicht. An Kaisers Geburtstag, dem 27. Januar oder am 2. September, dem Jahrestag der Sedanschlacht von 1870, der zum Nationalfeiertag erklärt worden war, sang man ein Loblied auf den Kaiser:
Heil Dir im Siegeskranz
Herrscher des Vaterlands
Heil, Kaiser, dir.
Diese Kaiserhymne, gesungen auf die englische Melodie „God save the Queen“, war die alte Preußenhymne, und selbstverständlich hatte jedes Fürstenhaus seine eigene Landeshymne, so z. B. „Möge Gott dich stets erhalten, Weimars edles Fürstenhaus“, komponiert von Franz Liszt und getextet von Peter Cornelius im Jahre 1857, also zu der Zeit, als Hoffmann noch in Weimar war.
Bei weniger offiziellen Anlässen wurde eher „Die Wacht am Rhein“ gesungen, ein Lied, das ein Jahr vor dem Deutschlandlied Hoffmanns entstanden war. Erst in den 90er Jahren wurde Hoffmanns Lied bekannter. Es wurde häufig bei Heldengedenkfeiern zum Jahrestag der Sedanschlacht gesungen. Da bahnte es sich schon an, dieses „Deutschland über alles“, in der pathetischen Erinnerung an den Sieg über Frankreich, an „glorreiche“ Schlachten, bei denen so viele ihr Leben lassen mussten, für Kaiser und Vaterland. Für „Deutschland“ zu sterben erscheint darin schöner, als am Leben zu bleiben. Da werden die nächsten Schlachtfeste schon vorbereitet.
Was dann im ersten Weltkrieg oder gar nach 1933 aus diesem „Deutschland über Alles“ wurde, wissen wir heute. Und man konnte es schon damals kommen sehen, als Hoffmann starb und in den Jahren danach. Nach wie vor waren Hoffmanns politische Gedichte aus dem Vormärz aus den Bibliotheken verbannt, seine „vaterländischen“ Gesänge jedoch waren weit verbreitet. Das „Allgemeine Deutsche Kommersbuch“, die Bibel jeder Burschenschaft, ist gut gefüllt mit ihnen.
So blieb von seinem Leben fast nur diese Parole und einige Kinderlieder – einige freche Verse auf die Obrigkeit kursierten noch in Liedsammlungen in geringer Auflage. Wie schwer an Hoffmanns Freiheitslieder einige Jahre nach seinem Tod heranzukommen war, zeigt zum Beispiel eine Anekdote von Dr. Heinrich Gerstenberg, Direktor des Wilhelm-Gymnasiums in Hamburg, der über seine ersten Erfahrungen mit dem Werk Hoffmanns zu Ende des 19. Jahrhunderts zu berichten weiß:
„Als ich Ende der achtziger Jahre die Vorarbeiten für die Sammlung der Hoffmannschen Gedichte begann und hierzu auf einer deutschen Hofbibliothek die „Unpolitischen Lieder“ benutzen wollte, wurde mir zunächst bedeutet: dieses bedenkliche Buch würde nicht ausgeliehen. Und sein Direktor warnte väterlich wohlwollend den jungen Kandidaten davor, sich durch die Beschäftigung mit Hoffmann auf eine schiefe Bahn locken zu lassen… Wenn man damals die Frage stellte, wer „Deutschland über alles“ gedichtet hätte, konnte man selbst in Kreisen von Freunden und Kennern der deutschen Dichtung auf verlegenes Schweigen stoßen. Das ist nun – Gott sei Dank – anders geworden. Heute kennt und nennt man Hoffmann als den Sänger von „Deutschland über alles“. Das schöne Wort unseres Kaisers: „Ich kenne keine Parteien mehr, ich kenne nur Deutsche“ setzt auch Hoffmann in sein Ehrenrecht.“ (Gerstenberg, 1916)